Geschichte Schweiz

Veranstalter
Schweizerisches Landesmuseum Zürich (10562)
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10562
Ort
Zürich
Land
Switzerland
Vom - Bis
31.07.2009 -

Publikation(en)

Andreas, Spillmann (Hrsg.): Geschichte Schweiz. Katalog der Dauerausstellung im Landesmuseum Zürich. Zürich 2009 : Schweizerisches Landesmuseum, ISBN 978-3-905875-04-1 184 S. 48,00 CHF
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ines Keske, Global and European Studies Institute & Research Academy Leipzig, Universität Leipzig

Am 31. Juli 2009 eröffnete das Schweizerische Landesmuseum Zürich zwei Dauerausstellungen – eine kunstgewerbliche und eine namens „GESCHICHTE SCHWEIZ“. Im Folgenden soll die Geschichtsausstellung besprochen werden, die Vergangenes forschungsnah, zeitgemäß, mit Witz und mithilfe von Exponaten (und nicht Texten oder Neuen Medien) anschaulich macht.

Die Ausstellung ist nicht stringent chronologisch aufgebaut, sondern in vier Sektionen gegliedert, die dem Züricher Historiker und wissenschaftlichen Beiratsmitglied Philipp Sarasin zufolge „in zulässiger Verkürzung die Schweizer Geschichte in wesentlichen Zügen“1 charakterisieren sollen. Die vier Abschnitte thematisieren 1. Migrations- und Frühgeschichte, 2. Religions- und Geistesgeschichte, 3. Politik- und 4. Wirtschaftgeschichte.

Die erste Sektion „Niemand war schon immer da“ konstatiert gleich zu Beginn – und sicherlich für einige Besucher überraschend –, dass es „den Schweizer“ nicht gebe. Die Schweiz sei ein Land der Im- und Emigration und das von Anbeginn an. Eine den Abschnitt dominierende Porträtgalerie zeigt Abbildungen berühmter Zu- und auch Auswanderer, die oft als Schweizer wahrgenommen werden oder Leistungen hervorbrachten, die als nationale Errungenschaften erinnert werden. Diese „Hall of Fame“ beginnt mit Kofi Annan und Roger Federer in der Gegenwart und endet in der Urzeit beim Homo Sapiens, dem – so steht es im Text – „ersten Ausländer“ und Immigranten, versinnbildlicht durch einen Kinderschädel. Nicht nur hier zeigt sich, dass Geschichte auch mit einem Augenzwinkern begegnet wird. An ausgewählten Grabungsfunden und Handwerkserzeugnissen werden die Antike und das Frühmittelalter unter dem Aspekt der Schweizer Vielsprachigkeit in selten konzentrierter Weise präsentiert.

Die drei, den Kuratoren zufolge nationalen Tugenden „Glaube, Fleiß und Ordnung“ werden in der gleichnamigen zweiten Sektion einleitend als zwar von außen gemachte Zuschreibungen definiert, jedoch haben diese eine longue durée vom Mittelalter bis zur Aufklärung und vermögen die Schweizer trotz Sprachdifferenzen zu vereinen. Sowohl das katholisch dominierte Mittelalter mit einem das Leben klar regelnden Klosterwesen, der Inquisition und Volksfrömmigkeit, als auch die Reformation, die Mäßigung und Ordnung forderte, sowie die Gegenreformation, geprägt durch die Jesuiten und dem Trienter Konzil, können als eine jahrhundertelang andauernde Disziplinierung der Schweizer gelesen werden. Und auch der Fleiß ist eine historische Konstante, bedenkt man die Arbeit im mittelalterlichen Kloster, die Entwicklung des Buchdrucks in Basel und Zürich oder die Bildungsreform in der Aufklärung.

Die dritte politikhistorische und mit 19 Bereichen größte Sektion „Durch Konflikt zur Konkordanz“ vereint viele Forschungsperspektiven der Geschichtswissenschaften. Erstens gibt es Ausstellungsbereiche mit nationalem Fokus, so zur Bundesstaatsgründung 1848. Zweitens widmet sich die Ausstellung der Rolle der Schweiz in der europäischen Geschichte bzw. den Auswirkungen dieser für die Nation – und das oft illustriert durch Landkarten. So wird der Dreißigjährige Krieg behandelt, welcher die völkerrechtliche Souveränität brachte. Weitere Eckpunkte sind 1789, 1815, 1848 und die beiden Weltkriege. Drittens wird Landesgeschichte mit einem Blick hinaus über die Staatsgrenzen auf den großen Nachbarn Frankreich als transnational verflochtene Geschichte erzählt. Viertens werden regionale und sozialhistorische Aspekte wie die Stadt-Landgeschichte ab dem 14. Jahrhundert oder die Frauen- und Arbeiterbewegung in je eigenen Bereichen beleuchtet.

Die Politikgeschichte wird zwar klassisch chronologisch erzählt, doch bildet neben den vielen räumlichen Perspektivwechseln die „De-Mythologisierung“ der Nationalgeschichte einen fünften Schwerpunkt (unter anderem Rütlischwur, Heidi und Matterhorn). Jeweils reduziert auf ein Schlüsselobjekt entstehen in einem überlebensgroßen, sich drehenden „Mythenrad“ wie in einem Kaleidoskop immer neue Bilder dieser Mythen.

Positiv hervorzuheben ist, dass mit dem tradierten Geschichtsbild von einer seit Jahrhunderten einheitlichen, demokratischen und neutralen Schweiz gebrochen wird. Auch wenn sich die Schweiz nach der Schlacht von Marignano (1515) und der hohen Opferzahl auf eigener Seite dazu entschieden hatte, sich zukünftig in europäischen Territorialkämpfen einheitlich neutral zu verhalten, muss dies in der Zeitgeschichte anders gesehen werden. Denn auch eine passive Teilnahme wie der Verkauf des deutschen Raubgoldes im Zweiten Weltkrieg sei nicht neutral und führe zu Schuld und inneren Zerwürfnissen. Waren „die Schweizer“ bereits im Ersten Weltkrieg je nach Sprachzugehörigkeit in ihren Sympathien zu den jeweiligen Nachbarstaaten gespalten, so seien sie es nach 1945 und auch heute umso mehr. Denn nach der Rückkehr des Landes aus der 1945 selbstverschuldeten internationalen Isolation und einer sich anschließenden konsolidierenden Phase stünde im 21. Jahrhundert erneut eine „Feuerprobe für die Konkordanz“ an, wie der letzte Bereich in Aussicht stellt: Denn in Fragen wie zum Bankenwesen, zur Neutralitäts- und Flüchtlingspolitik, zur Steuer- und EU-Politik sei die Schweiz in zwei Lager gespalten, wie jüngere Abstimmungsergebnisse immer wieder verdeutlichen.

Die vierte wirtschaftspolitische Sektion setzt unter dem Titelstatement „Die Schweiz wird im Ausland reich“ ein. Grundlage für die globale Wirtschaftskraft seien seit der frühen Neuzeit das Söldnerwesen, die Chemie-, Textil-, Uhren-, Schokoladen- und Maschinenindustrie, aber auch das Bankenwesen und der Tourismus. Etwas holzschnittartig werden in der vorindustriellen Zeit und der Industrialisierung Armut und Reichtum gegenübergestellt. Die Entwicklung der Industriezweige und die Professionalisierung der Berufsbildung stehen im Mittelpunkt einer recht sachlich wiedergegebenen Industriegeschichte, die auf Basis der Erzeugnisse (unter die man auch die Söldner fasst), versinnbildlicht wird. Der letzte Bereich „Finanzplatz Schweiz“ wird durch einen riesigen Tresor dominiert. Doch ist hier die Einspielung von „Money“-Popsongs (also Liedern zum Thema Geld) eine gelungene Kontrastierung und Vitalisierung.

Nach jeder der vier Sektionen können Besucher auf gemütlichen Ruheinseln pausieren. Sie können in thematisch passenden Publikationen für Jung und Alt stöbern oder an je einer Medienstation spielerisch das eben Gesehene verarbeiten und bspw. den Einbürgerungstest machen.

Das sogenannte „Objekt des Monats“ (für August der Grippevirusimpfstoff Tamiflu®) am noch provisorischen Ausstellungsende zeigt, dass dem Museumsobjekt eine zentrale Rolle zuteil wird, da es beispielsweise hier alleiniges Zeugnis dafür ist, was die Schweiz aktuell beschäftigt. Für den Museumsdirektor Andreas Spillmann war es wichtig, Objekte als Zeugen ihrer Zeit „ein Stück weit für sich allein sprechen zu lassen und nicht mehr länger zur Illustration historischer Epochen herbeizuziehen“2. Und so werden sogar auf der Objektebene eigenständige Erzählstränge entwickelt, die vom eigentlichen Bereichsthema abweichen.

Die mehrsprachigen Ausstellungstexte können als Rahmungen und den roten Faden spinnende Elemente gelesen werden. Sie werfen Thesen und Fragen auf und sind besonders in den ersten beiden Sektionen durch ihren humorvollen Unterton ein anregender Denkanstoß.

Auch wenn die Ausstellungsgestaltung gelegentlich etwas über die Objektpräsentation dominiert, erzielt sie spannende Effekte; so in der zweiten Sektion (Bereich „Religiöse Disziplin“), wo ein abgedunkelter, in Lila und Gold getauchter, sakral anmutender Raum keine Überhöhung und Distanz schafft, sondern mit seinem flauschigen Teppich Besucher animiert, barfuß und gar nicht ehrfürchtig den Raum zu durchschreiten – derart war es zumindest im September zu erleben. Und auch die einst als „Ruhmeshalle der Nation“ den Rundgang beendende, monumentale neugotische Halle – der heutige Raum für die dritte Sektion – hat an sakraler Überhöhung verloren. Denn hier ist eine Adaption eines Freizeitparks entstanden, die Landesgeschichte mittels des Riesen(„Mythen-“)rads und einer Rutsche (leider nur für Kinder) zum Rummelplatz in zweifacher Hinsicht macht – nämlich sowohl für die Geschichte und ihre Akteure als auch für die Besucher.

In diesem Raum begegnet der Besucher einer Vielzahl an komplexen Informationen und großen Exponaten. Die Ausstellung findet hier ihren Höhepunkt, verliert jedoch anschließend an Kraft und Spritzigkeit. Nach der lebendig gestalteten und dicht bespielten „Ruhmeshalle“ schließt die vierte Sektion zu ruhig und zu sachlich an. Gern hätten hier überraschende, zum Nachdenken anregende und zugleich erheiternde Momente mit der Präsenz wie zu Ausstellungsbeginn wiederkehren können. Dennoch vermag dieser Wermutstropfen nicht, die Leistung der Kuratoren zu schmälern. Zürich präsentiert eine innovative Schau, die zeigt, dass das Ausstellen von Nationalgeschichte nicht Staub von gestern ist, sondern Zukunft hat.

Anmerkungen:
1 Philipp Sarasin, Die Geschichte der Schweiz neu erzählen, in: Neue Zürcher Zeitung, Sonderdruck Schweizerisches Landesmuseum, Juli 2009, S. 7.
2 Andreas Spillmann, zitiert in: O.A., Die Schweiz neu erzählen, in: Neue Zürcher Zeitung, Sonderdruck Schweizerisches Landesmuseum, Juli 2009, S. 1.

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